Button für das mobile Navigationsmenue

Jüdisches Leben in Schleusingen

Auszüge aus Briefen von Marvin Götz und Lilli Stern

Marvin Götz (1923 – 1999) schreibt am 13.12.1996:

„Mein Vater hatte vier Geschwister. Seine Schwester Helene wohnte in Hirschaid bei Bamberg. Ihr Mann Karl Heumann ist sehr jung gestorben. 1938 ist ihr Sohn Gerhard Heumann mit einem Kindertransport nach England gekommen. Helene, die sich später wiederverheiratete, ist zusammen mit ihrem Mann den Nazis zum Opfer gefallen. Die andere Schwester meines Vaters ist Paula Götz, deren Grab befindet sich auf dem jüdischen Friedhof in Schleusingen. Sie starb sehr jung.

Die älteste Schwester Lieselotte Götz war mit Sigmund Reiser verheiratet. Sie wohnten in Halle an der Saale und sind zusammen über Reichenberg in der Tschechoslowakei nach London ausgewandert. Ihr Sohn Ernst war in Schleusingen für kurze Zeit als Referendar im Gericht tätig. Ernst und seine Frau Tonka waren beide im KZ. Sie wurden am Ende des Krieges von den Russen befreit. Er hat die Freiheit nicht lange genießen können, er starb in Prag. Seine Frau wanderte nach Israel aus. Ihre Tochter Paula ist mit ihrem Mann den Nazis zum Opfer gefallen.

Nun zur letzten Schwester meines Vaters, Emma Plant, geb. Götz, welche in Reichensachsen bei Eschwege wohnten. Ein Sohn namens Fritz ging nach Argentinien, die anderen Kinder Lotte, Gustav und Ruth sind nach Palästina ausgewandert.

Meine selige Mutter Sara (Selma) Götz, geb. Zeilberger kam ursprünglich aus Ermershausen bei Heldburg. Ihr Bruder Leopold ist mit seiner Frau Sophie und einem Sohn in Polen umgekommen. Zwei Kinder wohnen in New York.

Eine Schwester Ida Gutmann wohnte in Niederwerrn bei Schweinfurt. Sie kam mit ihrem Mann Selli über Shanghai, wo sie während des Krieges waren, in die USA, wo ihre zwei Söhne Bernhard und Max bereits lebten. Eine Tochter Ilse kam über England, wo sie mit einem Kindertransport fuhr, in die USA.

Die älteste Schwester Lea Sachsendorfer, geb. Zeilberger ist mit ihrer Familie in die USA ausgewandert. Die jüngste Schwester Rosa Herman wohnte mit ihrem Mann Julius in Reckendorf bei Bamberg, auch sie gingen in die USA. Sie fragten mich, warum meine Eltern, nachdem sie alle Ausschreitungen gegen die Juden in Deutschland miterlebten, nicht gleich ausgewandert sind.

Bei der Machtübernahme der Nazis war mein Vater bereits 53 Jahre, meine Mutter 43 Jahre alt. Mein Bruder Gustav war seit 1937 im KZ Dachau und Buchenwald und da hatten sie die Hoffnung, dass wir alle zusammen Deutschland verlassen könnten. Gustav wurde erst 1940 entlassen, nachdem er die Bürgschaft von Verwandten bekam und er ging gleich in die USA. Ich erinnere mich noch heute, dass mein seliger Vater sich bemühte in Australien, Argentinien, Palästina und Amerika anzusiedeln. Die meisten Länder waren nur an Menschen mit finanziellen Mitteln, die auch die Sprachen beherrschten, interessiert.

In Schleusingen hat man uns gezwungen, unser Haus und Stallungen zu außerordentlich billigem Preis zu verkaufen. Es war sehr schwierig für meine Eltern mit 6 Kindern Zuflucht zu finden.

Gerechtigkeit gab es zu dieser Zeit in Deutschland nicht. Die Presse, das Gericht, Erziehung, Theater… waren alle von Nazis und ihren Anhängern – von denen es viele gab – besetzt und anders gesinnten Bürgern haben sie zuerst gedroht und dann, wenn sie nicht mitmachten, verhaftet. Diese Diktatur hatte ihre Spitzel in der Kirche, wo der Pfarrer meistens die Nazipropaganda predigte. Uniformen, Fahnen und spielende Kapellen haben den meisten Leuten gefallen.

Soweit ich mich erinnern kann, hatte mein Bruder Gustav einige Freunde, Harry Lang war einer von ihnen. Mein Bruder war sehr sportinteressiert. Er war ein Skifahrer und besuchte Oberhof, wo die Wettkämpfe stattfanden. Er gehörte auch zum Reitverein und war ganz gut mit unserem Hannoveraner-Pferd beim Hürdensprung. Einmal hatte er ein Pferd von Coburg bis nach Schleusingen geritten.

Wir hatten auch einen schönen Garten mit Gemüse, Himbeeren, Stachelbeeren, Johannisbeeren usw. und wir hatten auch Hühner und Gänse, Pferde und Kühe. Zur Erntezeit waren wir besonders beschäftigt. Meine Mutter brachte immer das Essen, dass sie selbst zubereitete, zum Feld. Zur Weihnachtszeit gab es Stollen, den sie selbst gebacken hat, zusammen mit Nürnberger Lebkuchen und anderen Geschenken für die Angestellten. Sie hat auch ihr eigenes Roggenbrot gebacken. Seife hat sie selber in der Waschküche hergestellt.

Jeden Morgen mussten wenigstens 10 Kühe gemolken werden. Wenn mal ein armer Mann oder Frau zu uns kam, war sie immer sehr hilfsbereit. Jeden Sabbat ging sie zusammen mit Frau Frankenberg in unsere Synagoge. Diese hatten die Nazis in der sogenannten „Kristallnacht“ geschändet.

Die heiligen Thorarollen haben sie zerrissen und auch Bücher verbrannt. Mit diesem Verbrechen haben sie bewiesen, was sie von ihrer eigenen christlichen Religion, die durch das Alte Testament mit uns eng verbunden sind, dachten.

Ich erinnere mich noch an meine Lehrer Löffler, Sohre, Weingarten und Georgi, dessen Ausstellung wir in der Bertholdsburg besichtigten. Seine Geologie-Klasse war sehr interessant. Es war sehr schwer für mich in der Schule Freundschaft zu kultivieren. In der Schule hatten sie den Stürmer-Zeitungskasten aufgehängt mit allen blödsinnigen Karikaturen von langnasigen Juden.“


Marvin Götz schreibt am 14.12.1996:

„Mein Bruder Gustav wurde im Alter von 18 Jahren zusammen mit Harry Lang und [dem Nichtjuden] Ernst Kühner, der bei uns im Betrieb tätig war, verhaftet und in sogenannte Schutzhaft genommen. Die Anklage war Vorbereitung zum Hochverrat. Die Beschuldigung konnte man im Radio Moskau hören.

Zwei Jahre waren sie alle im KZ Dachau und Buchenwald, nachdem sie im Gefängnis in Erfurt waren.

Nach der Entlassung ging Harry Lang in die USA – genau wie mein Bruder, der innerhalb einer Woche Deutschland verlassen hat.

Ernst Kühner war vermutlich mit der deutschen Armee in Russland. Wir haben von ihm nichts mehr gehört. Er war ein edler Mensch. Er hatte mich öfter nach Schmiedefeld und Frauenwald mit dem Fahrrad mitgenommen. Wir sind auch einmal nach Bamberg gefahren. Ich liebte die Bayerischen Alpen, besonders die Bier-Gärten…“


Die Schwester von Marvin Götz, Lilli Stern, geb. Götz schreibt im April 2001:

„Leider kann ich Ihnen nicht behilflich sein, da es mich sehr deprimiert an meine Jugendzeit in Schleusingen zurückzudenken.“