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Schleusingen

Henry Frankenbergs Erinnerungen

Deutsch

„Bis zu meinem 6. Lebensjahr verlief mein Leben in Schleusingen ereignislos. Ich hatte einen Freund, Herbert Götz. Entweder spielten wir bei ihm oder bei mir zu Hause, gewöhnlich bei ihm. Wir spielten Fußball auf einem Spazierweg neben seinem Haus.

Manchmal, besonders im Sommer, besuchten meine Mutter, Schwester und ich die Großeltern in Unsleben. Ich verbrachte dort viel Zeit in der Schnapsbrennerei meines Onkels (Likör- und Essigfabrik).

Uns gegenüber in der Bertholdstraße war eine Bäckerei.

Viel Zeit verbrachte ich auch mit den Leuten oberhalb unserer Wohnung. Ich war 6 oder 7 Jahre, als mir diese Leute, an deren Namen ich mich nicht erinnern kann, sagten, ich könne nicht mehr zu ihnen kommen. Ich konnte nicht verstehen, warum ich plötzlich nicht mehr willkommen war. Erst Jahre später begriff ich, dass der Grund einzig und allein darin lag, dass ich ein Jude war.

Ich kam als Kind mit 6 Jahren zur Schule. Mein Freund Herbert war immer mit mir zusammen in der Klasse. Wir hatten sonst keine Freunde, aber auch keine Probleme mit anderen bis auf ein spezielles Ereignis: Ich war, glaube ich, in der 4. Klasse. Wir hatten einen Lehrer, dieser hatte ein Nazizeichen an einem blauen Band an seinem Revers und er trug eine Brille.

Eines Tages sagte er uns, dass Hitler alle jungen Männer in die Armee einberufen hätte, während die Polen nur für ein Jahr einberufen würden. So hätte also Deutschland, falls es zum Krieg mit Polen käme, wenn dieser Beginnt, doppelt so viele Soldaten wie Polen.

Anschließend fragte er, wie viele Protestanten in der Klasse seien; viele Kinder hoben die Hand. Er wollte danach wissen, wie viele Katholiken in der Klasse seien; und wieder hob eine ganze Menge Kinder die Hand. Bis er schließlich sarkastisch nach der Anzahl der Juden fragte, wobei nur ich und Herbert die Hände hoben. Und dann lachte die ganze Klasse einschließlich des Lehrers über uns.

An dieses Ereignis, das über 65 Jahre zurückliegt, erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen.

In der Pause spazierten die Schüler immer im Kreise auf dem Schulhof, die Lehrer gingen auf und ab. Nach diesem beschriebenen Ereignis wurde Herbert und mir untersagt, mit den anderen diese Runden zu drehen, sondern wir mussten uns an der Veranda (Treppenstufen) des Hinterhauses aufhalten.

Am Morgen vor Schulbeginne mussten sich alle Schüler in Reih und Glied auf dem Schulhof aufstellen und wenn „Deutschland, Deutschland über allem“ gesungen wurde, mussten wir beide still sein.

Es war eines Samstagnachmittags, kurz nach meinem 10. Geburtstag, so erinnere ich mich, als meine Eltern spazieren gingen. Etwa eine halbe Stunde, nachdem sie gegangen waren, kehrte meine Mutter allein zurück und suchte Vaters Brieftasche und Spazierstock. Sie hatte diesen seltsamen Gesichtsausdruck und auf die Frage meiner Schwester und mir, sagte sie nur, dass man Vater verhaftet hätte. Danach standen Truppen vor unserem Haus und alle Sorten von Autos fuhren die Straße auf und ab. Meine Schwester und ich brachten Vater Essen ins Gefängnis.

Eine Woche später, an einem Sonntag, spielte ich gerade mit Herbert Fußball, als ein Junge vorbeikam und sagte: „Es ist besser, wenn du nach Hause gehst, da ist etwas nicht in Ordnung!“

Ich rannte nach Hause, wo schon ein Arzt war, der meiner Mutter Beruhigungstabletten gab. Als man ihr den Tod meines Vaters mitteilte, war sie in Ohnmacht gefallen.

Ich erinnere mich, dass mein Vater gesagt hat, wir sollten weg aus Deutschland. Er hatte Kontakt zu entfernten Verwandten in den Vereinigten Staaten aufgenommen zwecks eines Besuches unsererseits. Da er nichts von ihnen hörte, beschloss er, mit uns nach Südafrika zu gehen. Kurz danach wurde er von den Nazis verhaftet…

Kurz nach der Beerdigung meines Vaters gingen wir nach Unsleben, wo wir bei den Eltern meiner Mutter lebten. Kurze Zeit später erhielten wir Antwort von den Verwandten meines Vaters und verließen am 18.8.1938 Unsleben in Richtung USA. Und wir danken Gott jeden Tag, dass meine Mutter den Mut und den Weitblick zu dieser Entscheidung hatte, mit 2 kleinen Kindern in ein neues, fremdes Land zu gehen.“

English

"Until I was 6 years old, my life in Schleusingen was uneventful. I had a friend, Herbert Götz. Either we played at his house or at my house, usually at his. We played soccer on a walkway next to his house.

Sometimes, especially in summer, my mother, sister and I visited the grandparents in Unsleben. I spent a lot of time there in my uncle's distillery (liqueur and vinegar factory).

Opposite us in the Bertholdstraße was a bakery.

I also spent a lot of time with the people above our apartment. I was 6 or 7 years old when these people, whose names I can't remember, told me I couldn't come to them anymore. I could not understand why I was suddenly no longer welcome. Only years later did I realize that the only reason was that I was a Jew. I went to school when I was 6 years old. My friend Herbert was always with me in class. We didn't have any other friends, but also no problems with others except for one special event: I think I was in the 4th grade. We had a teacher who had a Nazi sign on a blue band on his lapel and he wore glasses. One day he told us that Hitler had drafted all the young men into the army, while the Poles were drafted only for one year. So, if the war with Poland were to begin, Germany would have twice as many soldiers as Poland. He then asked how many Protestants were in the class; many children raised their hands. He then asked how many Catholics there were in the class, and again a lot of children raised their hands. Until he finally asked sarcastically about the number of Jews, with only me and Herbert raising their hands. And then the whole class, including the teacher, laughed at us.

I remember this event, which took place over 65 years ago, as if it had been yesterday.

During the break the pupils always walked in circles in the schoolyard, the teachers went up and down. After this described event Herbert and I were forbidden to do these rounds with the others, but we had to stay at the veranda (stairs) of the back building. On the morning before school began, all the pupils had to line up in line in the schoolyard and when "Germany, Germany above all" was sung, we both had to be quiet. It was one Saturday afternoon, shortly after my 10th birthday, so I remember when my parents went for a walk. About half an hour after they had left, my mother returned alone and looked for father's wallet and walking stick. She had this strange expression on her face and when asked by my sister and me, she only said that father had been arrested. Then troops stood in front of our house and all sorts of cars drove up and down the street. My sister and I took father food to prison.

A week later, on a Sunday, I was playing football with Herbert when a boy came by and said, "It's better if you go home, there's something wrong!"

I ran home where there was already a doctor who gave my mother sedatives. When she was informed of my father's death, she had fainted.

I remember my father saying we should get away from Germany. He had contacted distant relatives in the United States for a visit on our part. Since he heard nothing from them, he decided to go with us to South Africa. Shortly afterwards he was arrested by the Nazis...

Shortly after my father's funeral we went to Unsleben, where we lived with my mother's parents. A short time later we received a reply from my father's relatives and left Unsleben on 18.8.1938 for the USA. And we thank God every day that my mother had the courage and the farsightedness to make this decision to go with 2 small children to a new, foreign country."